Reframing Minimalism: Gestaltung einer unendlichen Gegenwart

Was macht minimalistisches Design zu gutem Design? Warum kommen uns manche Bauwerke gestrig vor, andere zeitlos? Wie wirkt ein minimalistisches Gebäude auf seine direkte Umgebung? Diesen Fragestellungen geht der Zukunft- und Stadtforscher Ludwig Engel in seinem Essay nach, mit dem er zugleich einen interessanten Blick auf Design und Architektur ermöglicht.

Prägende minimalistische Architektur

Vor einiger Zeit stand ich auf dem Westmount Square in Montreal. Er wurde von der Ikone des architektonischen Minimalismus Mies van der Rohe („Less is more“) zwischen 1964 und 1967 entworfen und realisiert und besteht aus vier Volumen auf gerastertem Grund, leicht erhöht vom Straßenniveau, darunter eine U-Bahn-Station und eine kleine Shoppingmall. Die Fassaden der vier Volumen – ein Schuhkarton mit Wohnungen plus ein Wohnhochhaus und zwei Bürotürme – waren alle in denselben, ebenfalls streng durchgerasterten Dimensionen des Bodens ausgeführt: schwarz eloxierte Aluminiumrahmen und dunkles Rauchglas. Abgesehen vom schwarz-dunklen, sehr eleganten Erscheinungsbild, schienen die Türme fast Mies’ berühmten Lakeshore Drive Apartments in Chicago zu gleichen. Deren Planung hatte er bereits in den späten 1940er Jahren begonnen, und trotzdem erschien mir die Architektur – hier in Montreal und dort in Chicago – ungemein frisch.

Dornbracht Reframing Minimalism

Sensationell: die Ikonen minimalistischer Gestaltung

Dann stellte sich eine Sensation ein, die mich manchmal erfasst, wenn ich mit Ikonen der minimalistischen Gestaltung – seien es Gebäude oder Gebrauchsobjekte – oder auch mit der Minimal Art in Berührung komme: Die Objekte in der Umgebung, hier vornehmlich die Autos, die vor und zwischen den Gebäuden auf der Ebene geparkt waren, erschienen mir alle plötzlich so zeitlich. Als hätte Mies’ Architektur eine Kulisse geschaffen, vor der plötzlich alle andere Gestaltung gewogen und – größtenteils für „zu leicht“ befunden – auf ihren Platz in der Zeit (80er, 90er, 2000er …) verwiesen würde. Die fehlende Kompromissbereitschaft, die Stringenz, Eindeutigkeit und bewusste Materialität, die ausbleibende Transparenz der Funktion der Autos, die das Pech gehabt hatten, ausgerechnet vor diesen Hochhäusern geparkt zu werden, schienen sich wegzuducken, selbst zu verstehen geben zu wollen: „Wir wissen es: Wir sind zu kompliziert, zu undurchdacht, zu effekthascherisch, wir hatten unsere Zeit.“ Und die ist nicht jetzt.

Dieter Rams: Thesen des guten Designs

Dieser Effekt, so meine These, ist nicht pauschal mit gutem versus schlechtem Design zu beantworten. Vielmehr stellt er zeitloses, sprich: minimalistisches Design gegen zeitgeistiges Design – das wiederum sehr gutes Design sein kann. Dieter Rams indes, der ultimative Pate minimalistischer Gestaltung, formulierte seine zehn Thesen zum minimalistischen Design nicht von ungefähr als zehn Thesen des guten Designs. Just what is it that makes minimalism so different, so appealing? Darum soll es nachfolgend gehen. Nicht um die zeitgenössischen Trends der minimalistischen Konsum- und Lebensstile, die ein Leben propagieren, das mit so wenigen Dingen wie möglich auskommt, und es geht auch nicht um puristische Interieurs und minimalistische Einrichtungskonzepte, obwohl schlussendlich beides auch wieder mit dem zu tun hat, wovon ich sprechen werde.    

Dornbracht Reframing Minimalism

Nicht jede Zukunft wird zur Gegenwart

Als Zukunftsforscher interessiert mich naturgemäß die Zeit. Vor allem, wie sie von den Menschen genutzt wird, um ihre Erfahrungen und Erwartungen in Einklang zu bringen. Der Gegenwart kommt hierbei eine Scharnierfunktion zu, die zwischen Vergangenheit (= Erfahrung) und Zukunft (= Erwartung) vermittelt. In diesem Spannungsverhältnis schafft der Mensch in jedem Augenblick Fragmente des vermeintlich Kommenden, da er auf Basis bestimmter Erfahrungen entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten forciert und andere unterdrückt. Fragmente des vermeintlich Kommenden deshalb, da leider nicht alles in Erfüllung geht, was wir uns von der Zukunft erhoffen und sich nicht alles verhindern lässt, was nach unserem Dafürhalten nicht passieren dürfte. So wird nicht jede Zukunft zur Gegenwart, und es hat sich inzwischen ein beachtliches Reservoir an vergangenen Zukünften angesammelt – Objekte, Ideen, Produkte und Gebäude, die für Zukünfte erdacht, geplant oder realisiert wurden, die nie Wirklichkeit geworden sind.

Die Zeitlichkeit der ewig Wartenden

All diesen Dingen haftet eine Zeitlichkeit an, die sie nie Teil eines Jetzt haben werden lassen. Diese Dinge erscheinen in Antizipation einer Zukunft, die nicht kommen wird, als ewig Wartende, deren Zeit nicht kommen wird. Bemerkenswerterweise handelt das bekannteste Theaterstück Samuel Becketts, den man einen sprachlich-dramatischen Minimalisten nennen kann, genau davon: „Warten auf Godot“. Vielleicht ist es ja dem Minimalismus vorbehalten, den vergangenen Zukünften den Spiegel vorzuhalten?

Dornbracht Reframing Minimalism

Potsdamer Platz: ein Sinnbild für Zeitlichkeit

In der Architektur sind vergangene Zukünfte oft am besten nachzuvollziehen, da der urbane Kontext und die tägliche Nutzerschaft ein Gebäude zur Ehrlichkeit zwingen. Ein gutes Beispiel sind die Gebäude am Potsdamer Platz in Berlin, anhand derer ich in meiner Heimatstadt, öfter als mir lieb sein kann, erleben muss, wie sich Zeitlichkeit auch in und nicht nur vor Architektur manifestieren kann. Der Potsdamer Platz war eine riesige Brache im Herzen der Stadt und wurde in den 90er Jahren von namenhaften Architekten aus der ganzen Welt beplant und bebaut. Dabei war die Annahme, dass Berlin von Menschen und Unternehmen bald überrannt werden würde und den dadurch entstehenden Bedarf an Büroflächen der Potsdamer Platz mit seinen neuen Hochhäusern decken könnte. Damit würde der Platz in kürzester Zeit wieder zu einem der zentralen Orte der Stadt werden, der er vor dem 2. Weltkrieg schon einmal gewesen war. Als es dann aber wider Erwarten weder Menschen noch Kapital nach Berlin zog, wurde der Platz zu einem toten, unstädtischen Ort, von Touristen gleichgültig besucht und von Berlinern widerwillig frequentiert.

Eine Stadtkulisse für Produkte ohne Zukunft

Und auch heute, nachdem Menschen und Kapital ihren Weg dann doch noch in die Stadt gefunden haben, fristet der Potsdamer Platz ein Dasein als Zombie, der es einfach nicht schafft, sich in der Gegenwart Relevanz zu verschaffen. Gleichzeitig ist hingegen interessant zu beobachten, wie der Potsdamer Platz in der (Zukunfts-)Kommunikation benutzt wird. Unzählige Werbungen bedienen sich der aseptischen Hochhauskulisse, um ihr behauptet zukunftsorientiertes Produkt – Auto, Lounge Chair, Zitronenpresse, völlig einerlei – vor der Kulisse einer „Stadt von morgen“ positiv aufzuladen. Wohlbemerkt sind die beworbenen Produkte meist von äußerster Gestrigkeit und offensichtlich an eine Klientel gerichtet, die sich unter der Stadt der Zukunft eine Stadt der vergangenen Zukunft vorstellt. Der Potsdamer Platz besitzt eine Zeitlichkeit, die ihn an diese vergangene Zukunft bindet und es ihm unmöglich macht, Gegenwart zu werden. Er wird für immer die Kulisse der Stadt der Zukunft, vor der Produkte werben, die selbst keine Zukunft haben.

Dornbracht Reframing Minimalism

Auto: zeitlich. Architektur: zeitlos.

Das ist nicht immer so: 1928 bewarb Mercedes seinen neuen Typ 8/38 PS-Roadster, indem er ihn vor Le Corbusiers Beitrag zur Werkbundsiedlung am Weißenhof ablichtete. Das Gebäude war ein Jahr zuvor mit einem Dutzend anderer unter der Leitung von Mies van der Rohe realisiert worden und wirkt auch heute noch erstaunlich zeitgenössisch. Das Phänomen ist dem oben vom Westmount Square beschriebenen vergleichbar. Beim Betrachten der Werbeanzeige von damals sieht das Auto heute aus wie das, was es ist: ein Auto von 1928. Das Haus im Hintergrund: gestern Bauabnahme. Eigentlich hätte Mercedes sein Werbemotiv seit 1928 nicht mehr ändern, sondern lediglich jeden neuen Roadster an derselben Stelle fotografieren können.

Minimalismus ist unbedingte Gegenwart

Und das sind dann hier auch schon meine two cents: Minimalismus ist unbedingte Gegenwart, die keinerlei Zeitlichkeit als Rück- oder Vorgriff zulässt. Minimalistische Architektur zwingt sich der Zeit auf. Alvaro Sizas Pool in Leça de Palmeira bei Porto, Mies’ Barcelona-Pavillon, Sanaas New Museum in New York, die Häuser von OFFICE Kersten Geers David van Severen in Belgien oder Lacaton & Vassals Wohnsiedlungen in Frankreich: Sie alle scheinen in ihrer klaren Geometrie, ihrer funktionalen Sprache, ihrem Rückgriff auf serielle Produktion, Repetition, Transparenz und dezidierte Künstlichkeit eine universelle Sprache der Zeitlosigkeit zu sprechen. Sie sind wie Spiegel, die in ihrer cartesianischen Ordnungsliebe die Welt um sich herum strukturieren und in ihrer Zeitlichkeit verstärken.

Dornbracht Reframing Minimalism

Minimalistische Architektur ist eine Bühne von hoher Qualität

Durch die genannten Architekturen verändert sich die Raumwahrnehmung des Betrachters. Das Umfeld bekommt eine spekulative Zeitlichkeit. Das Objekt selbst wirkt zeitlos, die Zeitlichkeit des Umfelds wird hervorgehoben. Die Zeitlichkeit der anderen gestalteten Objekte in der Umgebung tritt zum Vorschein. Und ist es nicht sogar so, dass ein gut komponiertes Objekt – egal welcher Epoche oder Geschmacksrichtung – in einem minimalistischen Environment seine Qualität offenbart? Minimalismus in Architektur ist wie eine Bühne von so hoher Qualität, dass schnell sichtbar wird, welcher Schauspieler, der auf ihr wirken möchte, sich verhoben hat und wer die Qualität besitzt, sie zu füllen.

Die Reduktion des Sichtbaren eröffnet Möglichkeiten

Minimalismus ist nicht elitär und macht Vorhandenes sichtbar. Minimalismus sorgt für Transparenz sowohl der Funktionsweisen des Objekts als auch der Motivation hinter der Produktion des Objekts. Als Robert Smithson mit seinen Non-Sites Erde zwischen Spiegel schüttete, Dan Flavin mit Neonröhren und Donald Judd mit Aluminiumrahmen die Kontextualität einer Installation zum Teil der Installation machten, da kam es zur Verwandlung der Erfahrung des Betrachters von einem ästhetischen Engagement in den vom Kunstwerk gesetzten, visuell-räumlichen Rahmen zu einem Ereignis außerhalb des Kunstwerks. Heute, da ein ephemerer, unsichtbarer digitaler Layer unsere Gegenwartswahrnehmung verändert, eröffnet die weitere Reduktion des Sichtbaren Möglichkeiten und Freiheiten einer kontextuellen Interpretierbarkeit: Ein Satz ist meist noch keine Antwort, sondern die Spitze des Eisbergs. Aber ein clever platzierter Satz vermag beim Gegenüber weit mehr zu bewirken als ein ausformuliertes Argument.

Dornbracht Reframing Minimalism

Ein minimalistisches Objekt wirkt auf seine Umwelt

Damit ist auch die Stärke von minimalistischem Design beschrieben: Es stärkt die Wahrnehmungskraft des Betrachters. Je mehr Phantasie und Vorstellungskraft, je mehr Wissen und Intuition er besitzt, desto stärker wirkt auf ihn eine Gestaltung, die ihren Gestaltungsanspruch nicht ausformuliert, sondern umreißt. Und noch etwas: Es ist nicht nur der Betrachter und Benutzer, der mehr sehen kann, je schärfer sein Auge und Geist, sondern auch das Umfeld selbst wird scharfgezeichnet in Abgrenzung zum minimalistisch designten Objekt.

Über den Autor

Ludwig Engel studierte Wirtschaft, Kultur- und Kommunikationswissenschaft in Berlin, Shanghai und Frankfurt/Oder und beschäftigt sich in Lehre, Ausstellungen, Publikationen und Beratungsprojekten mit urbanen Utopien, langfristiger Strategieplanung und Fragen des Digitalzeitalters. Er war Teil der „Society and Technology Research Group“ der Daimler AG, ist Gründungsmitglied des „Interdisciplinary Forum on Neuro-Urbanism“ und Mitherausgeber von „Spekulationen. Transformationen. Überlegungen zur Zukunft von Deutschlands Städten und Regionen“ sowie weiterer Sammelbände zu den Themen Stadt der Zukunft, Künstliche Intelligenz und Gesellschaftliche Transformation.

Diese Seite teilen

Das könnte Sie auch interessieren